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Bei der Geburt sind wir fast alle mit einem optimalen Hörvermögen ausgestattet. Leider wird es im Laufe des Lebens von Natur aus schlechter. Eine echte Hörbehinderung aber kann zu Isolation und Depressionen führen. Von daher sollte uns immer bewusst sein, welches Geschenk ein gutes Gehör ist und dass es keine lebenslange Garantie darauf gibt.

Chinesische Wasserfolter

Der Arzt diagnostizierte bei Tine einen erblich bedingten Hörverlust, der mittlerweile zu einer Einschränkung von 50 Prozent geführt hat. Dazu kam noch ein Tinnitus, den sie sich bei einem Autounfall zugezogen hatte. Der Tinnitus allerdings veränderte ihr Leben noch drastischer und diktiert inzwischen ihren Alltag.

An manchen Tagen kann Tine das Bett kaum verlassen, weil die Ohrgeräusche zu belastend sind, als dass sie irgendetwas tun könnte. Sie leidet unter konstanten Klingelgeräuschen, unregelmäßigen Klickgeräuschen und einem lauten Pfeifton. "Es ist absolut schrecklich. Fühlt sich an wie chinesische Wasserfolter", versucht sie das Phänomen zu erklären.

Wenn ich einen wirklich üblen Tinnitus habe, hilft es mir, Queen zu hören und einfach mitzugrölen

Babys mit Superkräften

Ture Andersen ist Oberarzt am Hörzentrum des Universitätsklinikums Odense und klinischer Lehrbeauftragter in der Audiologie der Süddänischen Universität. Er sagt uns, dass jeder mit einem optimalen Gehör geboren wird und dass Babys die besten Ohren haben:

"Eine normale Konversation liegt bei 100 Hertz, ein Neugeborenes kann Töne bis 20 Hertz hören. Im Laufe des Lebens verschlechtert sich dann das Hören, schon mit ca. 25 bis 30 Jahren beginnt der Verlust", sagt er. Und gibt zu bedenken, dass die meisten Menschen ab dem 70. Lebensjahr eigentlich Hörgeräte nutzen sollten.

Sein Rat ist, sich über ein gutes Gehör zu freuen und darauf zu achten, es nicht zu früh zu verschleißen. Das bedeutet zum Beispiel: Verwenden Sie Ohrstöpsel bei Konzerten oder wenn es bei der Arbeit zu hoher Lautstärke kommt. Achten Sie darauf, die Musik auf Ihrem iPod nicht extrem zu übersteuern. Die Folgen könnten schlimmer sein, als man sich das vorstellt, wie das Beispiel von Tine Thiesgaard zeigt.

Persönlichkeitsveränderung

Bei seiner Beratungsarbeit hat Ture Andersen mehrere Fälle kennen gelernt, die zeigen, auf welche Weise ein Hörverlust Menschen sozial isolieren und sogar zu Depressionen führen kann:

"In einer größeren Runde kannst du nicht mehr verstehen, was die Leute sagen. Da fühlt man sich schnell einsam und isoliert. Denn Hörenkönnen ist doch elementar für den Kontakt zu anderen Menschen."

In genau diese Isolation hat die Schwerhörigkeit Tine manövriert. Als sie irgendwann nicht mehr das ganz so schlagfertige Mädchen war, das allen Gesprächen am Tisch problemlos folgen konnte, wurde sie plötzlich von vielen Treffen ausgeschlossen:

"Es entsprach meiner Persönlichkeit, ein sehr sozialer Mensch zu sein, aber ich musste mir nun eine ganz neue Identität und andere Werte im Leben suchen, mich an Dingen erfreuen, die ich früher für vollkommen langweilig hielt wie Waldspaziergänge oder Malerei. "

Ausgerechnet Musik spielt auch heute noch eine wichtige Rolle im Leben von Tine - seltsamerweise könnte man denken, da sie doch unter Hörproblemen leidet, aber heute nimmt sie die Musik auf eine ganz neue Art und Weise wahr.

Dancing Queen

„Du merkst erst, wie wichtig das Gehör ist, wenn du es verloren hast. Ich war früher auf vielen Konzerten, das musste ich mir abgewöhnen. Nicht weil der Sound zu schlecht ist oder das Hörgerät nicht mitmacht, sondern weil die anderen Konzertbesucher so viele Störgeräusche verursachen, dass ich am nächsten Tag besonders heftigen Tinnitus habe.“

Eine weitere Leidenschaft musste Tine aufgeben, die immer schon ein großer ABBA-Fan war. Leider gibt es in beinahe allen ABBA-Songs einen speziellen Synthesizer-Sound, den kein Hörgerät richtig umsetzen kann. Obwohl Tine und ihr Mann in ihrem Haus die neuesten Audio-Player installiert haben – eben solche Geräte, die mit einem Hörgerät via Bluetooth kommunizieren – lassen sich ABBA-Songs auch mit diesem System nicht gut wiedergeben.

"Ich bin schon sehr traurig über das, was ich verloren habe, aber andererseits kann ich manche Musik auch positiv nutzen. Wenn ich einen wirklich üblen Tinnitus habe, hilft es mir, Queen zu hören und einfach mitzugrölen. Auch akustische Musik funktioniert meist ganz gut. Jack Johnson ist zum Beispiel immer ein tolles Hörerlebnis für mich."

Tine hat außerdem gelernt, dass alte Schallplatten ihre Vorzüge haben, denn deren Klang ist vielschichtiger, digitale Tonträger klingen in ihren Ohren dagegen schrill und übersteuert.

Musik bringt der Seele Frieden

Ture Andersen betont, dass Musik die mentalen Probleme, die mit einem Hörverlust einhergehen, oft ausgleichen kann. Der reine Klang wird bewusster erlebt und kann Emotionen auslösen, die man sonst im Alltag vermisst:

"Es ist klar, dass das Musikerlebnis ein anderes wird als mit einem gesunden Hörvermögen. Aber mit der richtigen Ausrüstung kann Musik dem Menschen helfen, seinen Frieden wieder zu finden. Es entsteht ein neues Hörerlebnis, das man anders zu genießen lernt", erklärt er.

Tine Thiesgaard findet an den Bands, die sie früher hörte, kaum noch Spaß und hört jetzt vor allem klassische Musik. Aber sie vermisst immer noch ihre Lieblingssongs von ABBA: "Manche Leute meinen, dass sie lieber das Hören als das Sehen verlieren würden, aber das denken sie nur, weil sie es nicht erlebt haben. Es ist einfach schrecklich, nicht mit Leuten reden zu können und sozial isoliert zu sein. Du verpasst viel mehr, als du dir vorstellen kannst, wenn das Hörvermögen dich verlässt", sagt sie.